07 Sep Attack On Titan: Von der Angst, verschluckt zu werden
Das schlimmste Monster ist immer noch der Mensch – und seine größte Hoffnung zugleich. Eine Anime-Serie setzt diesen unheimlichen Umstand beinahe perfekt um.
Seine Mutter wird gefressen, vor seinen Augen, in zwei blutige Teile gebissen, ein Titan verschluckt sie mit breitem, friedlichem Lächeln. Terror. Hass. Wut. Eren Yeager reagiert mit diesen Gefühlen und kennt von da an nur mehr ein Ziel, alle Titanen zu töten. Doch selbst für die Hauptfigur von »Attack On Titan« eine zu große, zu unbewältigbare Aufgabe. Seine Freunde und Kameraden sterben wie die Fliegen, ihre Pläne scheitern, die wenigen Erfolge sind durch hohen Blutzoll erkauft. Dazu kommen Verrat in den eigenen Reihen und eine quälende Ungewissheit, woher die Titanen kommen und was sie wollen. Warum sie die Menschheit so dezimieren, dass sie innerhalb hoher Mauern wie Vieh leben muss. Diese Titanen brauchen keine Nahrung brauchen, sie jagen und fressen Menschen … ja warum eigentlich?
Willkommen bei »Attack On Titan«. Der enorme Erfolg der gleichnamigen Anime-Serie kam für die Macher so überraschend, dass zwei Jahre nach Erstausstrahlung noch immer an der zweiten Staffel gearbeitet wird. In der Zwischenzeit wurde das Manga, das der Serie zu Grunde liegt, allein in Japan 50 Millionen Mal verkauft. Ein Kinofilm kam heuer in japanische Kinos und war sofort auf der Eins, der zweite Teil folgt im Herbst. Und natürlich gibt es zahlreiche Gadgets, Adaptionen und Fanfiction. Es ist fast wie bei »Batman« oder »Harry Potter«. Eine Idee stößt auf so viel Resonanz, dass sie weiter und weiter gesponnen wird. Das Manga zu “Attack On Titan” wurde bereits 2009 veröffentlicht, eigentlich als Shōnen, d.h. es war vorwiegend für männliche Teenager gedacht. Damals stand Japan am Höhepunkt seiner Wirtschaftskrise, die Arbeitslosenrate betrug 5,7 Prozent. Für andere Länder sind das traumhafte Zahlen, für Japan eine Katastrophe. Aber erst mit dem Video-Anime kamen viele internationale Seher dazu – allein auf der Imdb wird es von 44.000 Menschen mit 8.9 Punkten bewertet. Sie sehen eine grandios gemachte Serie, die unterhält und erschüttert.
Grinsende, unheimliche Killer
»Seid ihr das Essen? Nein, wir sind die Jäger«, singt der Chor im Titelsong zu epischem Metal, ja richtig, auf Deutsch. Die Atmosphäre der Serie ist manchmal heiter, viel öfter aber finster und beklemmend. Nach über hundert Jahren greifen die Titanen wieder an und durchbrechen die äußerste der drei Mauern. Sie sehen freundlich und unschuldig aus, wenn sie Menschen zermalmen und verschlingen, sie spüren keinen Schmerz, selbst wenn ihnen ganze Gliedmaßen abgeschnitten werden. Nur ein sauberer Schnitt im Nacken kann sie töten. Deshalb steht die Menschheit nicht mehr ganz oben in der Nahrungskette. Ein Game, das Skizze geblieben ist, führt den aussichtslosen Kampf aus der Ego-Perspektive vor Augen. Ohne viel Übung wird man immer wieder von den Titanen zermalmt, schwer verletzt, gepackt und gefressen, die Überlebenschancen sind äußerst gering. Jeder Einzelne muss so gegen Umstände kämpfen, die viel größer sind als er selbst und ganz buchstäblich drohen, ihn zu verschlucken.
Interpretationen gibt es viele, warum diese Serie gerade jetzt so erfolgreich ist. Etwa dass die Angst vor dem wieder erstarkten Riesen China und die einsetzende Remilitarisierung Japans dahinter stecken. In China ist “Attack On Titan” verboten, in Hong Kong sehr erfolgreich. Oder – breiter gedacht –, dass die Serie die Ohnmacht gegenüber multinationalen Konzernen verarbeitet, wie übergroße Unternehmen die kleinen Leute beherrschen und verzehren. Über Regierungen, Superreiche oder Massenmedien lässt sich das ebenfalls leicht behaupten.
Eine andere Theorie geht so weit, dass die Titanen den unbändigen Hunger nach Ressourcen verkörpern würden. Indem wir mehr verbrauchen als die Erde jemals produzieren kann, frisst die Menschheit sich selbst auf. Die ersten Opfer sind jene, die am Rand leben, im Süden, wie in der Serie, wo Armut und Angst alltäglich sind. Der Autor Hajime Isayama hatte die Idee für die Titanen in einem Internetcafé. Ein vollbetrunkener Kunde packte ihn am Kragen, dass es unmögliche war, mit ihm zu kommunizieren. Die hohen Wände zum Schutz vor den Titanen könnten insofern auch psychologische Bedeutung haben. Hinter der mentalen Barriere lauert das Unheimliche, das Hässliche und Groteske. Sigmund Freud sagte in seinem Aufsatz über das Unheimliche, dass dieses zugleich vertraut und unvertraut ist.
Goya, Zeus, Gaza
Wie der griechische Titan Kronos eines seiner Kinder frisst, wurde von Francisco de Goya in einer grandiosen und grässlichen Vision mit Öl direkt auf einer Wand seines Esszimmers verewigt. Auch sein Sohn Zeus verschlingt der Legende nach auf Grund einer Prophezeiung die schwangere Mutter der Athene, wodurch sie überhaupt erst seinem Kopf in voller Rüstung entspringen kann. Andere Menschen zu verschlingen, also Kannibalismus, ist quer durch fast alle Kulturen belegt. Die Gründe können völlig unterschiedlich sein. Immer überleben aber die, die fressen. In dieser Serie wird die Perspektive umgedreht. »Attack On Titan« zeigt die Opfer, die dunkle Seite des Konflikts, zeigt den Kampf gegen ein überwältigendes Anderes. Die Menschen werden belagert und bedroht, wie in Camps, wie hinter den Mauern des Gazastreifens oder hinter meterhohen Grenzzäunen.
Wer wen jagt, das umzukehren ist das Ziel der Protagonisten. »Attack On Titan« spart dabei nicht an Blut, langen inneren Monologen und spektakulären Bildern. Die Uniformen und Doppelklingen der Soldaten sehen schick aus, die Charaktere sind etwas flach aber ungewöhnlich und der 3D-Manöver-Apparat, mit dem die Einheiten sich durch die Luft bewegen, bringt eine fantastische Anmut in diese Welt. Diese sieht zwar ein wenig generisch aus, sie bietet andrerseits genügend Raum für Konflikte, Dummheit und Egoismus unter den Menschen. Die reichen und religiösen Kasten leben mit dem höchsten Schutz im innersten Zirkel und kümmern sich nicht um das Schicksal der Menschen ganz außen, sie benutzen sie indirekt sogar als Köder.
Sie sterben wie die Fliegen
Die Story wird dabei sehr geradlinig erzählt, nimmt aber immer wieder unerwartete Wendungen, zusätzlich angetrieben von dem Mysterium, was die Titanen wollen und einem Schlüssel, den Eren Yeager von seinem Vater bekommen hat. Ähnlich wie in »Game Of Thrones« sterben viele der zentralen Figuren, sie werden gefressen, zerteilt und gegen Wände geklatscht. Der Plan am Ende wirklich alle Helden sterben zu lassen, wurde angeblich aber aufgegeben. Die subtile Poesie der Filme von Hayao Miyazaki sollte man sich von der Serie nun nicht erwarten, aber zumindest visuell wurden die Folgen von Production I.G, die auch schon »Ghost In The Shell« und »Jin-Roh« realisiert haben, eindrucksvoll umgesetzt.
Homo homini lupus – der Mensch ist dem Menschen ein Wolf – hatte der Staatstheoretiker Thomas Hobbes eigentlich für Konflikte zwischen Staaten und Städten verwendet, während Menschen in ihrer eigenen Gesellschaft zu Mitgefühl fähig wären. Sigmund Freud greift den Satz in »Das Unbehagen der Kultur« auf. Menschen helfen einander, der Nächste ist aber immer auch “…Versuchung, seine Aggression an ihm zu befriedigen, seine Arbeitskraft ohne Entschädigung auszunützen, ihn ohne seine Einwilligung sexuell zu gebrauchen, sich in den Besitz seiner Habe zu setzen, ihn zu demütigen, ihm Schmerzen zu bereiten, zu martern und zu töten.” In “Attack On Titan” wird das perfekt übersetzt. Nur dass die nackten Titanen keine Geschlechtsorgane haben, passt da nicht ganz ins Bild.