Neue Pop Genres: Brand New You’re Retro

Macintosh Plus Floral Shoppe

Neue Pop Genres: Brand New You’re Retro

Pop-Musik ist nach wie vor voller Zukunft. Neue Genres wie Reggaeton, Amapiano, Afrobeats oder Vaporwave demonstrieren das eindrücklich.

[Beiträge erstmals ausgestrahlt im Ö1 Radiokolleg, September 2021 sowie Mai 2022]

In einer Pop-Gegenwart, die von der Vergangenheit besessen ist, gibt es nach wie vor neue Pop Genres. Sie feiern globale Erfolge oder prägen bestimmte Nischen, sie probieren neue Produktionsmittel oder alte Produktionsmittel neu aus, sie verbreiten sich über ungewöhnliche Kanäle oder drücken den Zeitgeist auf eine Art aus, die von ihrem Umfeld als neu erlebt werden. Oft knüpfen sie an Ausdrucksmittel an, die es bereits jahrzehntelang gibt. Immer sind sie das Reslutat von kulturellen Entwicklungen. Um diese soll es in dieser Musikviertelstunde gehen.

Reggaeton

Die New York Times schrieb 2018 von einem neuen Typ Popstar, der die Gegenwart erobert hatte. Einer der Stile, die ins Zentrum der Diskussion gerückt wären, ist Reggaeton. Jeweils über 7 Milliarden Streams in zwölf Monaten hatten die lateinamerikanische Musiker Ozuna, J Balvin und Bad Bunny alleine auf Youtube zu verzeichnen. In seinen karibischen Anfangsjahren wurde Reggaeton regelrecht bekämpft, Tonträger wurden beschlagnahmt, Aufnahmen sollten noch im Jahr 2002 auf Puerto Rico – einem Außengebiet der USA – reguliert werden. Denn die Themen waren sehr explizit, Drogen, Sex, Kriminialität, und nur gelegentlich mischten sich soziale Untertöne hinzu. Seinen ersten Boom erlebte das Genre in den 2000er Jahren, einen globalen Moment schließlich im Jahr 2017, als der Song “Despacito“ von Luis Fonsi und Daddy Yankee in fast fünfzig Ländern zur Nummer Eins wurde. Trotz eines gehörigen Mass an Misogynie gibt es zahlreiche Sängerinnen, die Erfolge feiern und mit Bad Bunny zudem einen prominenten Unterstützer der queeren Community.

Gqom / Amapiano

Durban am indischen Ozean ist die drittgrößte Stadt in Südafrika. Viele Zulus nennen sie auch eThekwini. Fast zwei Fünftel der Bewohner sind hier jünger als 19 Jahre. In dieser boomenden, subtropischen Stadt wurden vor rund zehn Jahren neue elektronische Grooves geboren, programmiert auf einfachen Rhythmusmaschinen, tanzbar, minimal und hypnotisch, die sich über Messaging-Dienste, in Taxis und auf offene Netz-Plattformen in der globalen Diaspora verbreiten. Das Genre aus den Townships von Durban heißt Gqom – gesprochen mit einem Schnalzlaut zu Beginn – Zulu für “Schlag“ oder “Trommel“. Mit ähnlich reduzierten Mitteln wird heute Amapiano produziert – Zulu für Pianos -, ein Stil, der mit 115bpm deutlich entspannter klingt, als das energiegeladene Gqom. Amapiano dominiert heute die Charts in vielen Ländern südlich des Äquators, einige Künstlerinnen und Künstler produzieren nun in beiden Stilen, Amapiano und Gqom. Zudem finden sich ihre Elemente auch bei großen US-Popstars – Tanzmoves bei Rihanna und Childish Gambino, Beats bei Beyonce und den Gorillaz.

Vaporwave

Vaporwave ist ein Echo der Finanzkrise von 2009. Ramona Langley veröffentlicht mit 19 Jahren ein Album, das als Meilenstein gilt. Unter ihrem Pseudonym Macintosh Plus erscheint 2011 “Floral Shoppe“, das viele Schnittmuster des Genres etabliert – darunter künstliches Bandrauschen, verlangsamte Loops, begleitet von eine Vorliebe für antike Statuen, für Schachbrettmuster und Farben auf dem Spektrum zwischen Violett und Rosa. Der Musikjournalist Adam Harper schrieb in einem grundlegenden Artikel über das Untergrund-Kunst-Genre, dass es „… die technologischen und kommerziellen Grenzen der grimmigsten künstlerischen Sensibilitäten des Hyperkapitalismus des 21. Jahrhunderts erforscht.” Mit der Präsidentschaft von Donald Trump kam es auch zu politischen Diskussionen darüber, warum Vaporwave bei der Neuen Rechten teils sehr beliebt war. Mit Oneohtrix Point Never wiederum hat einer der Pioniere des Genres erst kürzlich ein ganzes Album des vielleicht größten Popstars der später 2010er Jahre, von The Weeknd, produziert.

Afrobeats

Afrobeats ist ein unglücklicher Überbegriff. Erstens fallen darunter viele populäre Stile rund um den Golf von Guinea, zweitens ist die Vorsilbe “Afro“ äußerst verallgemeinernd und drittens kann der Name leicht mit Afrobeat der 1960er Jahre verwechselt werden. Dafür lässt er sich umso einfacher merken. Im Herbst 2020 befindet sich die halbe Welt im Lockdown. “Essence“ von Wizkid aus Lagos, Nigeria, bringt für viele die nötige Entschleunigung. Es wird die erste nigerianische Single, die es in die US-Charts schafft, für Barack Obama ist einer der Songs des Jahres und Justin Bieber verewigt sich auf einem Remix. Die Ursprünge des Genres gehen zurück zur westafrikanische Diaspora auf beiden Seiten des Atlantiks. Neuere Artists wie Tems, Burna Boy oder Fireboy DML entwickeln diesen Soundtrack für entspannte Tage weiter, sie versenden ihn mit Streamingdiensten um die Welt und mit gestimmten Schlitztrommel weben sie zudem einen distinkt lokalen Sound in ihre transnationalen Songs.

Pop Punk Revival

Eine Reihe von Solo-Künstler:innen und Künstler entdecken gerade Power-Riffs und eingängige Refrains für sich wieder, um ihren Platz in der Welt mit Lautstärke auszuloten. Allen voran ist da Olivia Rodrigo, die mit 19 Jahren bei den Grammys abgeräumt hat. Ihr Song “Good 4 U“ hält bei über 1.300.000 Streams und gilt als Speerspitze eines Revivals. Während bei ihr, bei dem unwesentlich älteren Superstar Billie Eilish oder bei der Britin Halsey punkige Gitarren nur Akzente in einem Stilmix sind, tauchen andere viel weiter in einen Stil ein, den sie nicht bewusst erlebt haben. Selbsthass, Drogen oder sexuelle Orientierung sind Themen, die häufiger auftreten als der große Erfolg. Und im Gegensatz zur Jahrtausendwende sind bei der aktuellen Pop-Punk-Welle sind die Musiker:innen diverser und die Szene inklusiver.

 

“Neue Genres” ist eine fortlaufende Reihe über neue Musikgenres auf Ö1, darunter u.a. Reggaeton, Gqom / Amapiano, Afrobeats und Vaporwave.

[Beiträge erstmals ausgestrahlt im Ö1 Radiokolleg, September 2021 sowie Mai 2022]