27 Nov ASMR: In weiter Ferne, so nah!
Videos auf Youtube helfen Menschen auf der ganzen Welt neben ihrem Display einzuschlafen oder zu entspannen. Was genau ist ASMR?
Es können kleine Geräusche sein, die dieses Kribbeln auslösen und einen Schauer über den Nacken bis in die Haarwurzeln jagen. Vermutlich haben Menschen schon Ähnliches verspürt, als sie um ein Lagerfeuer gesessen sind und eine sonore Stimme alte Geschichten erzählt hat. Oder wenn sie sich gegenseitig den Pelz gekrault haben. Die Mittel haben sich heute verändert. Im Netz hat sich eine große Szene entwickelt, die nichts anderes tut, als nach neuen Möglichkeiten zu suchen, mit Videos genau diese Gefühle auszulösen.
Diese Videos werden viele Millionen Mal angesehen, weil sie Menschen dabei helfen, einzuschlafen oder zu entspannen. Anfangs wusste man nicht so recht, mit welchem Phänomen man es zu tun hatte. Manche sprachen von Kopfkribbeln, oder sie erfanden Begriffe wie Aufmerksamkeitsinduzierte Euphorie. Jennifer Allen, die eigentlich in der Cybersecurity arbeitet, schlug vor acht Jahren einen Namen vor, der sich rasch durchsetzte: ASMR, kurz für Autonomous Sensory Meridian Response.
Seither hat das Phänomen immer mehr Blicke auf sich gezogen, bis es heuer schließlich von einigen Stars entdeckt wurde. Allen voran der Rapperin Cardi B oder den Schauspielerinnen Aubrey Plaza und Jennifer Garner. Auch Jan Böhmermann sprang auf, er kam aber nicht umhin, das Ganze zu ironisieren.
Trigger, Trigger, Trigger
Man braucht für ASMR im Grunde nicht mehr als eine Kamera und zwei Mikrofone. In einem dieser Videos, das 20 Millionen Mal angeklickt wurde, steht ein Mann nah an der Kamera und redet kein Wort. Er hantiert mit unterschiedlichsten Dingen, einem Polster, einer Plastikflasche, Brillenetui, Folie, Klebeband, allerlei Verpackungen und immer wieder streift er mit einem Holzstäbchen über unterschiedliche Oberflächen. Er schabt, scheuert und scharrt an ihnen, er raspelt und reibt, wischt und wetzt. Dabei entstehen sogenannte Trigger, die dieses spezielle Kribbeln auslösen lösen. Manchmal murmelt er auch nur Worte und zeichnet mit den Händen Gesten in die Luft. Das macht er zehn Stunden lang – ideal, um sanft einzuschlafen und möglicherweise damit aufzuwachen.
Wie es ist, geliebt zu werden
ASMR ist wissenschaftlich noch kaum erforscht. An der Universität Winnipeg hat man Hirnfunktionen von Personen gescannt, die diese Gefühle erleben können. Dabei hat man festgestellt, dass im Hirn andere Bereiche stärker miteinander verbunden waren als in einer Kontrollgruppe. Die Forscher konnten über die Gründe nur spekulieren und vermuteten, dass ASMR eine spezielle Form der Synästhesie ist – bei dieser beeinflusst ein Sinn einen anderen, Töne können etwa als ganz bestimmte Farben und Formen gesehen werden. An Synästhesie bissen sich Forscher ebenfalls lange die Zähne aus, weil sie nur von wenigen Menschen – noch dazu recht subjektiv – erfahren wird.
Forscher in Virginia haben deshalb eine so gewagte wie anmutige Hypothese aufgestellt. Fast alle Eindrücke, die unter ASMR zusammengefasst werden, hätten eines gemeinsam, sie zeichnet ihre ruhige, geborgene Intimität aus. Bei allen Gesten und Sprechakten, die auf diese Weise Aufmerksamkeit und Intimität kanalisieren, würde es darum gehen, dass eine bestimmte Erfahrung herausgekitzelt wird, nämlich wie es ist, geliebt zu werden.
Kings of ASMR
Das wird deutlich bei zwei Menschen, die in der Szene besonders verehrt werden. Sie sorgten bei ihrem Publikum für dieses Kribbeln, schon lange bevor es einen Namen dafür gab. Fred Rogers ist eine Ikone des US-Fernsehens. Der Pastor hat über Jahrzehnte Kindersendungen gestaltet, die sich durch seine besonnene und liebenswürdige Art auszeichneten, die sich aber auch mit komplexen Themen wie Scheidung, Rassismus und Behinderung beschäftigten. Seine Persönlichkeit überzeugte bei einer Anhörung im US-Senat sogar einen Senator. Dieser gab zu, dass Leute von ihm erwarten würden, der harte Typ im Raum zu sein. Jetzt aber hätte sogar er Gänsehaut bekommen. Und er räumte die Finanzierung der öffenlich-rechtlichen Sendung ein.
Bob Ross wiederum flackert spät nachts über die Bildschirme schlafloser Menschen. Er spricht in einer unendlich ruhigen Art davon, wie alle Menschen malen können, dass auf der Leinwand alles möglich sei und es keine Fehler, sondern nur glückliche Unfälle gebe, während er in je einer halben Stunde vorführt, wie einfach Malen sein kann. Der ehemalige Militärausbilder hatte eines Tages beschlossen, niemanden mehr anschreien zu wollen. In den rund vierhundert Sendungen seiner Show hat er beeindruckend geschafft.
ASMR explodiert sanft
Heute sind es vor allem Frauen, denen andere dabei im Netz zusehen, wie diese über Schachteln und Schatullen, über Kästchen und Kassetten streifen oder wie sie Rollenspiele inszenieren – eine neurologische Untersuchung, einen Friseurbesuch oder Einchecken ins Hotel. Andere entspannen bei Kochvideos. Sie entspannen beim Zerteilen von kinetischem Sand oder wenn sehr alte Gebrauchsgegenstände so lange geputzt, geschmirgelt und aufpoliert werden, bis sie wieder aussehen wie neu. Für viele Menschen erfüllen diese Videos den Zweck, den sie sich von ihnen erwarten. Sie berichten davon, dass ASMR ihnen bei Schlaflosigkeit hilft, bei Stress, chronischen Schmerzen und Angstzuständen.
Vergangenen September hat eine Studie nun erstmals das Gehirn von Menschen gescannt, während sie sich solche Videos ansahen. Dabei konnte beobachtet werden, wie das Belohnungszentrum aktiviert wurde wie auch Hirnregionen, die mit emotionaler Erregung verbunden werden. Ähnliche Muster hätte man bei gemeinschaftsorientierten Handlungsweisen beobachtet und bei Gänsehaut, wie sie durch Musik ausgelöst wird. Man verspricht sich durch ASMR neue Therapiemethoden. Und während das Phänomen einigen Youtubern das Leben finanziert, erlebt es heuer parallel sogar einen Moment im Scheinwerferlicht der Popkultur.