Bauordnung: Und warum liegt hier Stroh?

Architektur zwischen Freiheit und Vollkasko c_KM

Bauordnung: Und warum liegt hier Stroh?

Man könnte glauben, Häuser sind eine Todesfalle. Es gibt heute beim Neubau unzählige Normen, Vorschriften und Regeln. Übertreiben wir es mit den Paragraphen?

Grenfell wäre in Österreich nicht passiert. 80 Menschen kamen in dem Turm ums Leben, sie verbrannten, obwohl das Gebäude in London kurz zuvor saniert worden war. In Österreich wäre das nicht möglich, ist sich Martina Frühwirth sicher, eine der Kuratorinnen am Architekturzentrum Wien. Es werden für den Brandschutz andere Materialien verwendet, alleine deshalb könnte eine Fassade hier niemals so brennen. Es gibt aber auch einen Anlassfall, der dafür sorgt, dass in Österreich der Brandschutz so streng ist wie in kaum einem anderen Land.

1881 brannte das Ringtheater, die Gänge dort waren schmal, die Treppen verwinkelt, die Fluchttüren öffneten sich nur nach innen, die Notbeleuchtung war noch nicht einsatzbereit. Als das Feuer ausbrach, wurde erst eine Stunde später evakuiert, nicht genügend Feuerwehr alarmiert und die Rettungsversuche wurden viel zu früh abgebrochen. Der Abend war noch dazu ausverkauft, offiziell kamen bei dem Brand 384 Menschen ums Leben, manche schätzen das Doppelte. Seither ist der Brandschutz in Österreich so außergewöhnlich streng.

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Manche sagen, er ist zu streng. Es gab Bemühungen den Brandschutz zu lockern, denn viele Verordnungen, Richtlinien und Normen machen Neuplanungen nicht nur aufwändig, sondern sehr teuer. Der tragische Vorfall in den Londoner Grenfell Towers hat diese Diskussion um eine Lockerung vorerst beendet. Wie wir bauen, wie wir wohnen, wo wir arbeiten hängt aber generell von unzähligen Regeln ab. Und diese werden immer umfangreicher.

Architektur zwischen Freiheit und Vollkasko
Entwicklung der Wiener Bauordnung seit 1829. Eher komplizierter geworden.
(c) Architekturzentrum Wien

Dabei wird immer für den schlimmsten Fall geplant, nicht für den Normalbetrieb. Noch bevor ein Stein auf den anderen gesetzt wird, müssen deshalb dutzende Sachverständige ihren Segen geben – ist das Gebäude hundertprozentig barrierefrei, ist die Dachschräge schon zu schräg, steht das Haus auch weit genug vom nächsten weg, ist der Tageslichtquotient erfüllt, wie laut wird es innen sein, ist der Erker noch ein Erker oder schon eine unzulässige Auskragung und ist etwa gar das Ortsbild gefährdet, weil das Gebäude am Ende in Gelbschwarz angestrichen wird?

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Freiheit oder Vollkasko, fragt sich deshalb das Architekturzentrum. Es will damit eine breite, gesellschaftliche Debatte anzetteln. Denn dem Schutzbedürfnis steht der Wunsch gegenüber nicht alles in Regeln zu zwängen. Und das geht uns wirklich alle an. Wir als Gesellschaft entscheiden darüber, was erlaubt ist und was nicht. Man hat sich in der Ausstellung deshalb einige spielerische Elemente überlegt, um das Thema erlebbar zu machen.

Architektur zwischen Freiheit und Vollkasko
Unterschiedliche Toleranzen bei Schrägen von Stufen und Handläufen in unterschiedlichen Ländern werden im AzW erfahrbar gemacht.
(c) Architekturzentrum Wien

In einem Persönlichkeitstest kann man herausfinden, welcher Sicherheitstyp man ist. Oder man steigt über die Treppen, wie sie in den Niederlanden, Österreich, den USA oder Japan in öffentlichen Gebäuden noch erlaubt sind. In einer Vitrine sieht man, wie sich die Wiener Bauordnung in 150 Jahren aufgebläht hat. Die Normen darin sind nun streng genommen nicht gesetzlich verpflichtend, sie haben dennoch großen Einfluss, denn häufig werden sie in Verträgen übernommen oder vor Gericht als aktueller Stand der Technik judiziert.

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Einen Spielplatz zu bauen ist deshalb heute sehr kompliziert. Nur wenige Experten kennen sich noch mit den hunderten Seiten Vorschriften aus. Es braucht Beläge, die einen Sturz mildern oder Hölzer, die nicht splittern und keine Kanten haben. Auf der anderen Seite häufen sich seit 2013 Unfälle auf Spielplätzen ganz deutlich. Das Kuratorium für Verkehrssicherheit sagt, dass in neun von zehn Fällen die Aufsichtspersonen durch das Handy abgelenkt sind. Auch dieses Beispiel verdeutlicht den Spagat, den Architekten heute bewältigen müssen.

Andere Regeln scheinen absurd. Viele Nutzer verstehen oft nicht mehr, warum Türen so schwer sind, warum Gänge unterbrochen werden, warum im Innenhof so wenig Bäume stehen. In Österreich müssen Bäckereien bei geschlossenen Türen und Fenstern backen, weil sich Anrainer schon durch den Geruch belästigt fühlten – während viele den Geruch charmant und anregend finden. In Deutschland werden Spielplätze mit Lärmschutz ausgestattet.

Architektur zwischen Freiheit und Vollkasko
Schmale Parzelle am Stadtrand Wien, originelle Nutzung trotz zahlreicher Vorschriften.
(c) Architekturzentrum Wien

Dabei war weder früher alles besser, noch ist es im Ausland heute einfacher. In anderen Ländern der EU gelten andere Gesetze, aber nicht unbedingt solche, die durchschaubarer oder einfach umzusetzen sind. Und selbst mit hunderten Vorschriften ist es noch möglich, spannende Häuser zu bauen, in denen man sich gern aufhält. Wie das nun in Österreich aussehen soll, eine breite Debatte darüber anzufangen, wie wir eigentlich leben wollen, wie wir wohnen und arbeiten wollen, dafür muss man dem Architekturzentrum jetzt schon danken.

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“Form folgt Paragraph“ ist im Architekturzentrum Wien bis 4. April 2018 zu sehen. Es wird zudem Exkursionen, Workshops und Führungen mit Experten zum Thema geben.